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Gegenstand
Der Bestand an deutscher Literatur,
der im Licht heutiger literaturwissenschaftlicher Forschung als
kanonisiert gilt, stammt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein im
Wesentlichen von männlichen protestantischen Angehörigen der
akademischen Bildungsschicht, die durch eben diesen Hintergrund über
einen relativ homogenen Wissens- und Wertungshorizont verfügten. Dabei
trifft man bei unvoreingenommener Auswertung der schriftstellerischen
Produktion auch zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert auf eine
überraschend hohe Zahl von Autoren, die trotz fehlender höherer Schul-
oder gar Universitätsbildung produktiv am literarischen Leben
teilnahmen. Sie verfaßten und publizierten Texte aller denkbaren
Gattungen, die sich zum Teil an den Konventionen der „Bildungsliteratur“
orientierten, zum Teil aber inhaltlich und formal auch eigenen,
alteritären Traditionen folgten.
Das Forschungsprojekt soll zum einen
die Entstehensbedingungen und Funktionen literarischer Werke
rekonstruieren, die in bildungsfernen Milieus entstanden sind („Sitz von
Literatur im Leben“). Zum anderen sollen die Formen, rhetorischen
Verfahren und Kunstmittel analysiert und die immanente Poetik derartiger
Literatur beleuchtet werden.
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Anstatt der in der
Literaturwissenschaft bislang gängigen Opposition zwischen
‘Gelehrtenliteratur’ und ‘Volksliteratur’ bzw. ‘populärer Literatur’
wird dabei ein Milieu-Modell angewandt, das auf sozial- und
bildungsgeschichtlichen Quellen basiert und eine angemessenere
Binnendifferenzierung auch nichtintellektueller Autorenkreise erlaubt.
Milieus werden durch eine Vielzahl korrelierender Elemente (neben
Geburts- und Rechtsstand auch Konfession und Bildungsgang, Beruf und
Status, Vermögen, soziale und politische Loyalitäten etc.) bestimmt;
zentral für die literarische Produktion scheinen dabei v.a. die
Stufungen der Teilhabe an der „Bildungstradition“ zu sein, d.h.
Wissensinhalten und Formvorschriften, die im akademischen Unterricht
vermittelt wurden.
Ein solcher Ansatz erlaubt es einmal,
relativ direkte Interdependenzen zwischen der Rhetorizität der Texte und
ihren außerliterarischen Kontexten aufzudecken. Er ermöglicht zum
anderen einen differenzierteren Blick auf die Literaturhistorie, die nur
scheinbar durch den heute konsekrierten „Mainstream“, tatsächlich aber
durch mehrere „literarische Kulturen“ geprägt war, die in komplexer
Gemengelage nebeneinander existierten und jeweils über bestimmte
Trägerschichten und Geltungsbereiche verfügten. |